Evangelium und Kirche
Jürgen Moltmann 2016 im Hospitalhof / Stuttgart. Foto: wikipedia / maeterlink

Jürgen Moltmann zum 95. Geburtstag

(Von Kirchenrat i.R. Dr. Rainer Strunk, EuK-Informationen 1/2021)

 

Anfang der sechziger Jahre habe ich Jürgen Moltmann an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal und an der Bonner Universität gehört, bin zuerst seine studentische Hilfskraft, dann sein Assistent geworden und frage mich, was damals unsere Begeisterung für den jungen Systematiker ausgelöst hat.

Im Grunde betraf das nicht ein bestimmtes Thema, das er behandelte, sondern seine Art, Theologie zu treiben überhaupt. Das war nicht nur historische Theologie, die sich um die Ursprünge und Entwicklungen von Christentum und Kirche kümmerte. Auch nicht nur dogmatische Theologie, die entfaltete, wie die Lehrinhalte des Glaubens zu verstehen seien. Es begegnete uns vielmehr eine Theologie fürs gegenwärtige Leben und zur Orientierung in unserer Zeit. ‚Politische Theologie‘ hat Moltmann das selber genannt. Und gemeint war damit eine Theologie, die sich stets im aktuellen Gespräch mit Tendenzen, Kräften und Problemen der Welt befand. Wir wurden angehalten, gleichsam mit der Bibel in der einen Hand und mit der Tageszeitung in der anderen herauszufinden, was zur Diskussion stand und wohin die Reise gehen sollte.

Später wurde ihm gelegentlich vorgeworfen, er sei mit seiner Theologie allen Aufgeregtheiten und auch allen Modeerscheinungen der Welt hinterhergelaufen, habe von ‚Theologie der Revolution‘ gesprochen, als die Freiheitsbewegungen der Schwarzen in den USA und der Landarbeiter in Lateinamerika von sich reden machten; habe eine ökumenische, eine ökologische und – zusammen mit seiner Frau – eine feministische Theologie befürwortet und sogar den Weg zur mystischen Erfahrung eingeschlagen. Das alles stimmt und ist doch falsch. Denn die Breite seiner Wirklichkeitswahrnehmung mit den Versuchen, theologisch darauf einzugehen, war nie ein Zeichen von Opportunismus. Es war immer ein Zeichen seiner Realitätsverbundenheit.

Der biblische Gott, dem er nachdachte, war der Gott, der zur Welt gekommen war, um die Welt zu verändern – auf Hoffnung hin. Was in der Theologie nicht auf diese Veränderungskraft hinauslief, das lief für sein Verständnis ins Leere.

Es verhält sich auch keineswegs so, dass diese entschiedene Wendung nach außen, ins weltliche Leben, in die Konfliktzonen der gegenwärtigen Geschichte und in die vielfältigen Notlagen der Menschen auf Kosten der theologischen Substanz gegangen wäre. Im Gegenteil. Moltmann hat in schöner Regelmäßigkeit Monographien zu den Schwerpunkten des christlichen Glaubens veröffentlicht: zur Kreuzestheologie (Der gekreuzigte Gott, 1972), zur Ekklesiologie (Kirche in der Kraft des Geistes, 1975), zur Schöpfungstheologie (Gott in der Schöpfung, 1985), zur Christologie (Der Weg Jesu Christi, 1989), zur Pneumatologie (Der Geist des Lebens, 1991), zur Eschatologie (Das Kommen Gottes, 1995) und zuletzt, womit er am längsten gezögert hat, zur Ethik (Ethik der Hoffnung, 2010).

Herausgekommen ist, zusammen mit weiteren zahlreichen Titeln, ein sehr umfangreiches theologisches Lebenswerk, dessen innerer Zusammenhang aber nie zerbrochen ist. Der Theologe der Hoffnung hat sich ein Leben lang gewandelt und ist sich zugleich ein Leben lang treu geblieben.

 

Drei Aspekte seines Lebens und seines theologischen Denkens möchte ich besonders hervorheben: den Ansatz bei der Hoffnung (1), die ökumenische Weite (2) und die Unverzichtbarkeit des Dialogs (3).

 

1)

Als Moltmann 1967 nach Tübingen berufen wurde (nicht zuletzt auf Betreiben Ernst Käsemanns), war die 1964 erschienene ‚Theologie der Hoffnung‘ längst zum Bestseller geworden, der in immer neuen Auflagen und Übersetzungen erschien. Die Konzentration auf das Thema Hoffnung ergab sich aus einer neuen Wertschätzung des Prophetischen im Alten und des Messianischen im Neuen Testament. Der Gott, der biblisch bezeugt wird, ist ein Gott im Kommen und also ein Gott der Hoffnung.

 Moltmann hat die Wende in der Zeitperspektive gern am Unterschied zwischen ‚Futur‘ und ‚Advent‘ deutlich gemacht.

‚Futur‘ ist der Physis verhaftet und meint das, was sich aus Vergangenheit und Gegenwart heraus entwickelt und was sich darum auch auf der verlängerten Zeitschiene prognostizieren lässt.

‚Advent‘ dagegen meint das, was von vorn, aus der Zukunft Gottes in unsere jeweilige Gegenwart hineinwirkt und dort Veränderungen, Erneuerungen, Befreiungen in Gang setzt. Das ‚Reich Gottes‘, von dem Jesus sprach, ist keine religiöse Utopie, auf die man tatenlos und schweigend wartet, sondern eine jetzt schon erlebbare Energie des Gottesgeistes, die den Müden auf die Beine bringt und den Verachteten und Entrechteten Gelegenheit verschafft, die Gabe des Lebens entschlossen in die Hand zu nehmen. Hoffnung motiviert also und sie aktiviert, statt bloß auf eine ferne, ungewisse Zukunft zu vertrösten.

 

2)

Eine Theologie der Hoffnung, die eine Theologie im Horizont des Reiches Gottes werden sollte, konnte sich nicht auf die mitteleuropäischen Lebensverhältnisse beschränken. Sie musste sich dem stellen, was sich auch anderswo in der Welt kulturell und politisch tat.

Moltmann hat schon in den ersten Tübinger Jahren angefangen, Studien- und Vortragsreisen in die gesamte Ökumene zu unternehmen: in die USA, nach Japan, Korea, Lateinamerika, Australien und in die europäischen Länder ohnehin. Vor allem in den Kirchen außerhalb Europas ist sein theologischer Einfluss beträchtlich gewesen.

Er war als Lehrer gefragt und geschätzt als jemand, der selber aus neuen Begegnungen zu lernen vermag. Zahlreiche intensive Freundschaften ergaben sich daraus und blieben über große Distanzen erhalten.

 

3)

Dieses Geflecht von Freundschaften bestätigt nun auch den Stil seiner theologischen Arbeit. Sie ist prinzipiell dialogisch angelegt. Im großen Maßstab betraf das zunächst seine Dialoge mit marxistischen Philosophen in der Zeit des Kalten Krieges: Gardavsky und Machovec, von Ernst Bloch in Tübingen gar nicht zu reden, wurden seine Gesprächspartner, und alle miteinander entdeckten, dass es keine unüberwindlichen Gräben gibt und dass man sich näher kommt, wenn man anfängt, voneinander zu lernen. Der Dialog mit dem Judentum schloss sich an, namentlich mit Pinchas Lapide und noch einmal mit Ernst Bloch.

Von ganz eigener Bedeutung sollte allerdings sein Dialog mit der eigenen Frau Elisabeth Moltmann-Wendel werden. Die hatte, von Begegnungen in den USA angeregt, seit 1974 auch publizistisch begonnen, eine Feministische Theologie in Deutschland zu fordern und zu fördern. Einer ihrer bekanntesten Titel: ‚Ein eigener Mensch werden. Frauen um Jesus‘, 1980.

Aus dem eher privaten Gespräch der beiden, die sich als Doktoranden bei Otto Weber in Göttingen kennengelernt hatten, wurde mehr und mehr ein öffentlicher Dialog, der sie bei Veranstaltungen zusammenführte.

Elisabeth lag daran, die langen patriarchalischen Schatten über der Christentumsgeschichte zu vertreiben, und Jürgen, sich selber aus diesen Schatten herauszubewegen.

Der Theologe lernte in diesem Prozess, die menschliche Erfahrung noch einmal neu als Basis seines Denkens ernst zu nehmen und öfter als bisher ‚Ich‘ zu sagen.

 

Den Weg dieses speziellen Dialogs kann Moltmann so zusammenfassen: „Ich habe gelernt, theologische Fragen und Erkenntnisse in die Lebenszusammenhänge einzuführen, in denen ich selbst mit anderen existiere. Diesen Weg ‚aus den Gedanken ins Leben hinein‘ verdanke ich Elisabeth und ihrer feministischen Theologie“ (Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, 2006, S. 316).

 

Kirchenrat i.R. Dr. Reiner Strunk

Pfarrer und zuletzt Leiter der Fortbildungsstätte Kloster Denkendorf war Assistent von Prof. Moltmann

 

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