Evangelium und Kirche
Michael Blume, Beauftragter der Landesregierung gegen Antisemitismus

Interview mit Dr. Michael Blume zu Verschwörungsmythen

Das Interview führte Reinhard Kafka, EuK-Informationen 1/2021.

 

Die Menschen sind in Zeiten von Corona „auf Abstand“. Sie ringen gerade in dieser Phase um eine Erklärung des Unerklärbaren. Es ist eine Zeit der Spekulationen und der Mythenbildung. Hier werden Verschwörungsmythen geboren. Nicht selten docken diese an apokalyptische Aussagen der Bibel an. Hinter vorgehaltener Hand heißt es: Krankheiten, Hungersnöte und Kriege nehmen zu, wenn das Ende naht.

Die Situation ist bereits nicht mehr in den Händen der Regierenden. Der Antichrist, von dem in der Offenbarung des Johannes die Rede ist, hat das Ruder übernommen. Das war vorhersehbar, aber nur wenige haben die Zeichen der Zeit gedeutet und die prophetischen Schriften wie die Endzeitrede bei Matthäus 24 richtig gelesen.

 

Herr Blume, haben Christinnen und Christen aufgrund der biblischen Botschaften eine besondere Neigung, sich auf Verschwörungsmythen in der jetzigen Zeit einzulassen?

 

Tatsächlich leben alle semitischen, also auf Alphabetschriften basierenden Religionen in einer positiven Erwartung auf eine göttliche Endzeit, sogar einen Messias. Im Judentum ist man da nach der Zerstörung Jerusalems und des Scheiterns auch von Bar Kochba deutlich zurückhaltender geworden. Im Christentum finden wir dagegen in der Auseinandersetzung mit Rom noch die Johannesapokalypse. Und diese wird tatsächlich von Verschwörungsgläubigen bis hin zu Xavier Naidoo oder Attila Hildmann immer wieder zitiert. Nicht die bereits aufgeklärten Kirchen, aber doch verschwörungsgläubige Gruppen wie die Schweizer OCG (Anm. 1) oder die US-amerikanische QAnon-Bewegung (Anm. 2) sind leider tatsächlich besonders anfällig für apokalyptische Verschwörungsmythen und Antisemitismus.

 

Gibt es in anderen Religionen mit der Offenbarung des Johannes vergleichbare „Geheimschriften“, die politisch relevant sind?

Kann man zum Beispiel die tiefe Kluft zwischen Schiiten und Sunniten auf eine unterschiedliche Deutung der schriftlichen Überlieferung beziehen oder liegt man mit einer solchen Vermutung falsch?

 

Ja, alle größeren, religiösen Traditionen prägen auch apokalyptische Erwartungen aus. Es mag für viele kaum vorstellbar sein, aber auch der sogenannte „Islamische Staat“ hoffte in seinen Schriften auf eine Rückkehr des Messias Jesus zur Zerschlagung der „Römer“, womit die USA, Europa und Israel gemeint waren. Ihre Internet-Zeitschrift „Dabiq“ war sogar nach einer Stadt in Syrien benannt, in der die apokalyptische Endschlacht hätte stattfinden sollen. Wenn wir ohne ausreichende Bildung – auch Herzensbildung – in immer neue Medienwelten stürzen, werden wir Menschen noch anfälliger für einfache Erzählungen, die die Welt in Gut und Böse einteilen und eine baldige Vernichtung der vermeintlich „Bösen“ beschwören. Auch der QAnon-Schamane, der am Sturm auf das US-Kapitol beteiligt war, erinnert daran, dass sich dies mit jeder Mythologie, Religion und Weltanschauung, verbinden kann.

Der Wahlkampf in den USA war vor allem in der letzten Phase von Aussagen von QAnon, – darf ich sagen – einer okkulten Person geprägt. Zentral ist die beleglose Behauptung, eine einflussreiche, weltweit agierende, satanistische Elite entführe Kinder, halte sie gefangen, foltere und ermorde sie, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge zu gewinnen. US-Präsident Donald J. Trump bekämpfe diese Elite. Nach einer repräsentativen Meinungsumfrage glaubten im September 2020 ein Drittel der Republikanerwähler an die QAnon-Thesen; weitere 25 Prozent halten Teile davon für wahr.

 

Herr Blume, handelt es sich bei diesem Grad an „Zustimmung“ um ein spezifisch amerikanisches Phänomen, das insbesondere dem Mainstream evangelikaler Bewegungen geschuldet ist? Warum tauchen aber dann auch bei der Querdenker-Bewegung in deutschen Städten Menschen auf, die auf ihren T-Shirts Embleme der QAnon-Bewegung zeigen? Früher hieß es, dass alles, was in Amerika als angesagt gilt, mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung in Europa Fuß fasst.

 

Wenn Menschen an Weltverschwörungen glauben, sehnen sie sich unweigerlich nach politischen Erlöserfiguren, die die vermeintlichen Bösen vertreiben, einsperren oder gar vernichten sollen. Diese Folge von Verschwörungsmythen nennt sich Tyrannophilie. Der Wahlkampf in den USA war vor allem in der letzten Phase von QAnon-Mythen geprägt, dessen millionenfache und globale Anhängerschaft in Donald Trump den vermeintlichen Erlöser sehen wollten.

Die mythologische Behauptung, eine einflussreiche, weltweit agierende, satanistische Elite entführe Kinder, halte sie gefangen, foltere und ermorde sie, um aus ihrem Blut eine Verjüngungsdroge „Adrenochrom“ zu gewinnen, geht dabei passgenau auf Mythen des frühen Buchdrucks zurück: Juden und Frauen hätten sich zum „Hexensabbat“ verschworen, um aus getöteten Kindern magische „Hexensalbe“ zu gewinnen.

Nach einer repräsentativen Meinungsumfrage glaubte im September 2020 ein Drittel der US-Anhängerschaft der Republikaner an QAnon-Mythen; weitere 25 Prozent halten Teile davon für wahr. Ich hatte dennoch bereits im Juni eine Wahlniederlage Trumps in meinem Buch „Verschwörungsmythen“ vorhergesagt, weil sich Vernünftige abwandten. Aber ich gebe zu, dass auch ich angesichts des neuen Präsidenten eine große Erleichterung verspüre – ohne wiederum Joe Biden für einen Messias zu halten.

Bei Verschwörungstheorien handelt es sich nach meiner Einschätzung nicht selten um eine sehr zielgerichtete Scheidung der Geister in Gut und Böse. Solche Theorien werden wohl meist strategisch und mit bewussten Intentionen in die Welt gesetzt und von Fanatikern verbreitet. Oft ist dabei von einer Weltverschwörung die Rede mit schrecklichen Anklängen an die Zeit der systematischen Judenverfolgung und -vernichtung im NS-Regime.

 

Darf man oder muss man sogar von einer weltweiten Vernetzung von Menschen und Gruppen ausgehen, die sehr gezielt diese Botschaften streuen?

 

Ja, wobei Verschwörungsmythen nicht zentral gelenkt werden, sondern in unterschiedlichsten Varianten entworfen und geteilt werden. Was wirkt, wird weitergetragen, das andere fällt zurück und schlummert. Manche Verschwörungsmythen wie das antirussische „Zaren-Testament“ über eine angeblich bevorstehende Invasion des russischen Imperiums nach Mitteleuropa sind faktisch verschwunden.

Andere aber wie die furchtbare Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“ tauchen in immer neuen Varianten und Bruchstücken auf. Das Judentum war die erste Religion des Alphabetes, der Bildung. Deswegen trauen Verschwörungsgläubige bis heute nur Jüdinnen und Juden zu, dass diese eine Weltverschwörung anführen könnten. Andere Menschengruppen wie Demokratinnen, Journalisten, Wissenschaftlerinnen, Kirchenleute, Roma und Sinti oder Muslime werden als Teil der vermeintlichen Verschwörung attackiert. Wie es der britische Rabbiner Jonathan Sacks, seligen Angedenkens, so richtig sagte: „Antisemitismus beginnt immer bei Juden, aber endet nie bei ihnen.“

Wir haben in Deutschland in den letzten Jahren immer wieder Bewegungen wie „Pegida“ und die „Querdenker“ wahrgenommen, die scheinbar aus dem Nichts entstanden waren und – je nach Blickwinkel – in erstaunlich oder erschreckender Geschwindigkeit Menschen motivieren konnten, auf die Straße zu gehen und sich nicht nur in Chat-Gruppen zu verstecken. Wenn man diesen Bewegungen Initiativen wie „Fridays for Future“ entgegenstellt, könnte man sich über ein wachsendes bürgerschaftliches Engagement eigentlich freuen?

 

Lieber Herr Blume, wo sind Ihre Bedenken und Anfragen auch an politische Entscheidungsträger?

 

Die Digitalisierung demokratisiert und anonymisiert die Kommunikation. Das hat sehr positive, aber auch gefährliche Aspekte. Wir gehen vom Zeitalter der Induktion – des Vertrauens in von weißen Männern verkündete Wahrheiten – in die Zeit der Falsifikation: Alles und jeder kann attackiert werden. Nicht nur zum Beispiel Texte der Bibel und von Martin Luther, sondern auch von Kant, Marx, Rudolf Steiner – alles wird auf Empörungspotential durchleuchtet.

Das entspricht einerseits demokratischen und gerade auch evangelischen Aufklärungsimpulsen, es überfordert aber viele Menschen auch. Und wer hat denn bitte keine verborgenen Ängste vor dem Coronavirus oder der fortschreitenden Klimakrise?

Ich wünsche mir von politischen Entscheidungsträgern quer durch alle demokratischen Parteien, dass sie einerseits für einen klaren, wehrhaften Rechtsstaat und andererseits eine warme, verständige Zivilgesellschaft einschließlich Religionen und Wissenschaften eintreten. Es wird beides dringend gebraucht.

 

Nun noch eine persönliche Frage: Wer wie Sie medial so präsent ist, dürfte sehr unterschiedliche Erfahrungen machen. Die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke am 1. Juni 2019 und andere Übergriffe machen Angst.

Wie geht es Ihnen und welche Sorgen treiben Sie um?

 

Tatsächlich war ich als Leiter eines humanitären Programmes im Irak bereits Todesdrohungen und Gefahren ausgesetzt und habe mir damals gesagt: Sei vorsichtig, pass auf deine Leute auf, aber schenke den Extremisten nicht deine Angst.

Auch da war mir der vertrauende Glaube eine große Stütze. Und wenn das in einem Krisengebiet möglich war, dann möchte ich in Deutschland nicht mit der Furcht anfangen. Wie sollte ich von Menschen der Zivilgesellschaft Courage erwarten, wenn ich mich selbst verstecke?

Inzwischen habe ich auch gelernt, die Attacken und Drohungen nicht mehr an mich heranzulassen. Mein Team schützt mich hervorragend. Und in krassen Fällen unterstützen wir auch die Ermittlungen der Polizei.

 

Anmerkungen:

1| OCG, Organischen Christus-Generation siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Ivo_Sasek

2| QAnon: kurz Q nennt sich eine mutmaßlich USamerikanische Person oder Gruppe, die seit 2017 Verschwörungstheorien mit rechtsextremen Hintergund im Internet verbreitet:

https://de.wikipedia.org/wiki/QAnon

 

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