Evangelium und Kirche
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Kirche und Corona: Nähe und Nächste

Was lässt sich aus den Anfängen der Christenheit für die Kirche nach Corona lernen?

Von Dr. Richard Mössinger

 

„Die Kirche der Zukunft bleibt Gottes Kirche; sie wird in Deutschland aber eine Kirche mit weniger Mitgliedern und weniger Ressourcen sein. Die Gründe für den prognostizierten doppelten Rückgang sind nicht nur demographischer Art. Christlicher Glaube hat für viele Menschen an Plausibilität und Relevanz verloren. Das wirkt sich auf das Tauf- und Austrittsverhalten vieler Menschen aus. Die Bindungskraft der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen und ihre gesellschaftliche Bedeutung haben abgenommen.

Die Krise der Akzeptanz von Kirche und ihrer Botschaft geht einher mit einer tieferliegenden Glaubenskrise“, sagt das Zukunftspapier der evangelischen Kirche in Deutschland. Die kritische Diagnose wird durch die Coronaerfahrung noch verstärkt, deshalb fährt das Papier fort. „Die aktuelle Krise wird zur Metapher: Wie begegnen wir der lähmenden Bedrohung eines unsichtbaren, potentiell tödlichen Virus? Wie kommen wir aus der Defensive des Rückzugs, des Lockdowns, der sozialen Distanzierung heraus in die Offensive einer verantwortlichen und zugleich zuversichtlich gestaltenden Perspektive kirchlicher Gemeinschaft?“

 

Solche Problemanzeigen haben die Christenheit immer wieder begleitet. Zur Abhilfe wollten ernsthafte Christenmenschen zu den Anfängen der christlichen Gemeinden zurückkehren. Sie suchten im Neuen Testament Orientierung und Ausrichtung für die Kirche. Die lebendige Anfangszeit und die unwahrscheinliche Ausbreitung des christlichen Glaubens vor 2000 Jahren sollten in Krisenzeiten zu einem Neuanfang helfen.

 

Die Kirche war für die von der Krise Erschütterten zu erstarrt in den Formen, zu korrupt und angepasst, zu lasch im christlichen Leben. Es fehlte ihnen die in den Anfangszeiten unterstellte Frische. Deshalb der Blick zurück.

 

Der ist aber nicht so einfach. Die ersten Christen haben sich Herausforderungen stellen müssen, die wir so nicht mehr  kennen und auch so nicht mehr kennen können.

 

2000 Jahre Christentumsgeschichte haben die Welt verändert. Wir haben Kirchengebäude, die gab es damals nicht. Man feierte meistens in Häusern. Die Gemeinden entwickelten sich aus dem Privaten heraus, wenn man es mit modernen Worten sagen will. Sie waren zuerst nicht als öffentliche Größen da.

 

Wir haben eine organisierte Kirche, auch die gab es damals nicht. Man lebte in einer freiwilligen Verbundenheit der Gemeinden. Die Gemeinden nahmen am Leben der anderen Ortsgemeinden teil und bildeten über Synoden allmählich die Form der Kirche. Dabei ist eine unterschiedlich geprägte Kirchlichkeit z. B. zwischen Rom und Ostrom, in den biblischen Texten die Spannung zwischen Paulus und Johannes, immer zu spüren gewesen. Es war kein einförmiger Prozess, sondern ein vielfältiges Wachstum, wie in einem Garten.

 

Wir haben die Bibel und die christlichen Bekenntnisse, die mussten in den Anfängen erst gefunden werden. Man war dauernd begründungspflichtig, deshalb war das Gespräch über den Glauben ein Teil der Gemeindearbeit und die Katechese für die Gemeinden ein Lebensfaktor. Weil die Christen ihren Glauben als wahre Religion ansahen, unterrichteten sie neben dem gemeindlichen Taufunterricht wie die Philosophen in Lehrhäusern, trieben also Erwachsenenbildung. Es bildete sich eine christliche Philosophie, die die gedanklichen Systeme der Antike veränderte, z. B. in der Frage der Leidensfähigkeit Gottes.

 

Das Leiden Gottes war für die griechische Philosophie undenkbar. Die christlichen Gemeinden waren eine Bildungsbewegung mit großer gestalterischer Kraft. Die christliche Literatur brachte einen neuen Schwung in die formal gewordene Schriftstellerei der Antike, sie war interessant.

 

Die Kirchen bildeten sich allmählich im öffentlichen Raum. Christen waren keine politischen Akteure, aber sie setzten neue Wertmaßstäbe, die das gemeinsame Leben und das rechtliche Verständnis des Lebens veränderten. Der Mensch wurde von den Christen als Geschöpf betrachtet, nicht als Sache, was in der Antike bis zum sechsten Lebensjahr anders war. Das Kind war eine Sache, erst ab sechs eine Person und genoss erst von da an einen rechtlichen Schutz. Das ist durch den christlichen Glauben anders geworden.

 

Die Veränderung, die die Christen in die Welt brachten, geschah von unten und durch eine innere Ausrichtung. Ohne Gewalt mit Überzeugungskraft.

 

Spezifisch christliche Essentials wie die Fürsorge für die Kranken, der Blick auf die Armen, die allgemeine Menschenwürde, Friedensarbeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit sind in den westlichen Kulturen heute Standard. Vor Jahrhunderten mussten sie sich aus dem christlichen Glauben herausbilden und immer wieder auch gegen die Institution Kirche durchgesetzt werden. Christliche Minderheiten sind bei der Prägung unserer modernen Welt entscheidend gewesen. Die ersten allgemeinen Freiheitsrechte wurden mit dezidiert christlicher Begründung im Bauernkrieg formuliert.

 

Heute sind diese ursprünglichen Triebkräfte oft unbekannt, aber die alten christlichen Ideale sind anerkannt und werden profan beschworen. Viele innere Anliegen der Kirchen sind so in die säkulare Welt eingewandert, dass sie keiner christlichen Begründung mehr zu bedürfen scheinen. Und das Christentum scheint manchen so überflüssig wie ein Kropf. Das ist unsere Lage, sie ist anders als am Anfang.

 

KIRCHLICHE ARBEIT HEUTE

Wenn wir uns an unserer Ursprungsgeschichte, wie sie in der Bibel bezeugt ist, vergewissern wollen, geht es bei uns nicht mehr um die Anfänge, sondern um die Gestaltung und Schwerpunkte der kirchlichen Arbeit heute. Es geht um das Erscheinungsbild einer christlichen Gemeinde und ihre öffentliche Wahrnehmbarkeit nach zweitausend Jahren Christentumsgeschichte. Wir haben viel hinter uns und sind nicht mehr am Anfang.

 

Die von der EKD beklagte Lage der Kirche allerdings braucht dafür dringend eine Rückbesinnung auf die inneren Beweggründe der christlichen Anfänge, die derzeit unterschlagen wird. Die Schwierigkeiten der evangelischen Kirche in Deutschland haben mit einer Anpassung an den Zeitgeist zu tun, die das unterscheidend Christliche verbirgt.

 

Ich verstehe nicht, warum wir den Reichtum unserer Tradition nicht mehr sehen und, ohne es direkt zu wollen, nur noch Mitläufer sind? Die christliche Gestaltungskraft ist schwindsüchtig. Dabei haben wir durch unseren Glauben genügend Mittel gegen diese Krankheit und vor allem Alternativen.

 

Undiskutiert unterwerfen wir uns den neuen Magiern, ob das jetzt Unternehmensberater, Organisationsexperten, Psychologen und Prognostiker sind. Wir machen mit unseren Problemen das, was die anderen auch tun, und fragen nicht nach den Implikationen der modernen „Wundermittel“.

 

Ich sehe noch Martin Niemöller im Tübinger Schlatterhaus vor mir, über achtzig Jahre alt, wie er mit jungenhaftem Lachen die Zukunftsforscher verspottete und ihnen ihre dauernden Irrtümer nachwies. Sein Spott ist angesichts der kirchlichen Praxis aktueller denn je.

 

Ich denke an die Mitgliederversammlung eines großen diakonischen Trägers, wo wir über benchmark und andere betriebswirtschaftlichen Errungenschaften aufgeklärt wurden, anstatt korrekte Zahlen zu bekommen. Ohne die kam das „Unternehmen“ in wenigen Jahren an den wirtschaftlichen Abgrund. Als ich dort einmal in der Leitbilddebatte eine theologische Frage angesprochen habe, – man schrieb „die Liebe ist Gott“, – konnte man mit dieser Art der Argumentation überhaupt nichts anfangen.

 

Wir bedienen uns in der Regel mit Verspätung der Rezepte und Glücksversprechen unserer Zeit und übernehmen sie unbefragt.

 

Die Mahnung zum gesunden Menschenverstand ist kein Alleinstellungsmerkmal der Kirche, aber das allein wäre für uns und unsere Zeit schon ein spürbares Heilmittel. Was sind wir schon getäuscht worden und wussten es doch. Ob es jetzt um Finanzen geht, um die Schulpolitik, um politisches Pathos, um die Planung der Energieversorgung, und ich habe noch keinen gehört, der seinen Fehler einmal zugegeben hätte. „Menschen handeln wie Götter, ertragen aber die Konsequenzen nicht.“ Man macht einfach so weiter und gibt bei Problemen schlicht eine neue Parole aus.

 

ANFÄNGE DER CHRISTENHEIT

In dieser Lage kann die Beschäftigung mit den Anfängen der Christenheit auch nach zweitausend Jahren noch die Wirkung eines Bades im Jungbrunnen haben, die ich mir für unsere Kirche wünsche.

 

Die christlichen Gemeinden waren in den ersten Jahrhunderten anders. Sie lebten alternativ. Viele Konventionen der alten Welt lehnten sie ab. Der Libertinismus der Antike wurde von ihnen nicht geteilt. Ihr Glaube hatte asketische Züge. Die ersten Christen hatten die Freiheit, anders zu sein und zu verzichten. Sie hatten ein geistliches Profil. Wo ist das bei uns?

 

In der Sorge, nicht ernst genommen zu werden, haben wir auf wesentliche christliche Elemente verzichtet. Es geschah oft mit dem Argument, das kann man heute nicht mehr machen. Im Waldheim biblische Geschichten erzählen, warum soll das nicht mehr gehen?

 

Aus der Andacht wurde ein Impuls, statt des Gesangbuchs kam die Klangschale. In meiner Studienzeit war die Frömmigkeit tabu, „unsere Knie beugen wir doch nicht mehr“, deshalb wurde sie gar nicht mehr thematisiert. Das Gespräch über die Bibel ist in den Gemeinden sehr leise geworden.

 

Ich möchte mit diesen Beobachtungen die einfache Frage stellen, warum wir unseren innersten Formen und Anliegen so unsicher geworden sind und was wir dagegen tun können? Wir haben uns offensichtlich zu wenig um die Plausibilität unserer christlichen Merkmale bemüht, deshalb strahlen sie nicht mehr aus.

 

Es ist für die Kenntlichkeit der christlichen Kirche wichtig, dass sie gemeinsame Formen und eine verbindende Sprache pflegt. Wir dagegen gehen in unserer Gemeindepädagogik vorwiegend auf das Individuelle ein und verlieren darüber die Gemeinschaft und die gemeinschaftliche Ausstrahlung.

 

Die christlichen Gemeinden hatten über ihre erkennbare Frömmigkeit hinaus eine verbindliche Ethik, die den Regeln und Konventionen der Antike widersprochen haben. Die Eigenheit einer christlichen Gemeinde wurde bemerkt, deshalb war sie interessant.

 

Äußerlich sahen das die Römer, wenn sie sagten: „... ihr haltet euch von allen Vergnügungen fern, auch von den anständigsten. Ihr besucht keine Schauspiele, nehmt an den Festzügen nicht teil, verschmäht die öffentlichen Speisungen; ihr verabscheut die Spiele zu Ehren der Götter, das Opferfleisch und den Opferwein der Altäre ... Ihr schmückt euch das Haupt nicht mit Blumen, pflegt euren Körper nicht mit wohlriechenden Essenzen; Spezereien werden bei euch nur für die Toten aufgewendet, und Kränze habt ihr nicht einmal für eure Gräber übrig.“ (Minucius Felix, Octavius, 12, 5f.)

 

Der christliche Lebensstil war öffentlich bemerkbar. Er war nicht laut, eher bescheiden, aber von außen betrachtet auffällig anders. Das ist heute nicht mehr ohne weiteres so. Für uns gilt immer noch die Diagnose Dietrich Bonhoeffers: ”Der Konflikt zwischen christlichem und bürgerlich-weltlichem Berufsleben ist aufgehoben. Das christliche Leben besteht eben darin, dass ich in der Welt und wie die Welt lebe, mich in nichts von ihr unterscheide, ja mich auch gar nicht – um der Gnade willen! – von ihr unterscheiden darf, dass ich mich aber zu gegebener Zeit aus dem Raum der Welt in den Raum der Kirche begebe, um mich dort der Vergebung meiner Sünden vergewissern zu lassen. Ich bin von der Nachfolge Jesu befreit …“

 

Das unterscheidend Christliche müsste vermehrt unser Thema sein, dass man uns als christliche Gemeinde erkennt.  Ohne eine verstärkte Beschäftigung mit der Bibel in unseren Gemeinden werden wir dieses Profil nicht gewinnen. Dazu noch ein Zitat aus Bonhoeffers Nachfolge: „Es stellt sich in Zeiten der kirchlichen Erneuerung von selbst ein, dass uns die Heilige Schrift reicher wird. Hinter den notwendigen Tages- und Kampfparolen der kirchlichen Auseinandersetzung regt sich ein stärkeres Suchen und Fragen nach dem, um den es allein geht, nach Jesus selbst. Was hat Jesus uns sagen wollen? Was will er heute von uns?”

 

Die Nachfolge Jesu ist das entscheidende Kriterium einer christlichen Existenz. Und wenn dereinst jemand auf unseren Grabstein „ein Zeuge Jesu Christi“ schreiben würde, wäre es die größte Anerkennung.

 

Wir merken bei solchen Gedanken aber zugleich, wie unvorstellbar fremd das schon in unserer Kirche geworden ist und auch deshalb nach außen nicht durchdringt.

 

NACHFOLGE

Will man das Thema Nachfolge in unsere Tage übertragen, reden wir von einer Lebenshaltung, die nicht egoistisch ist, sondern sich auf einen anderen bezieht. Im Zentrum der Lebensführung steht dann ein anderer. Es ist Christus, das Du, das einen Menschen zum Ich werden lässt, so wie die Eltern ihr Kind ansprechen, bis sein Ich erwacht. Wir kommen immer von anderen her und können uns deshalb nicht einfach von allen anderen lösen und nur von uns her denken. Wir sollten den gegenwärtig herrschenden Individualismus als Christen kritisch befragen. Und ihn nicht unkritisch religiös legitimieren.

 

Darum sind Gemeinschaftsräume und gemeinschaftliche Formen in der Liturgie gerade heute so bedeutsam. Die christliche Gemeinde ist ohne Gemeinschaft nicht denkbar, sie betet nicht zufällig „Vater unser“. Wer den Gottesdienst der Gemeinde aus welchen guten Gründen auch immer zur Disposition stellt, beschädigt den Kern des christlichen Glaubens.

 

Ich komme aus einer Gemeinschaft und kann mich nicht selbst haben, kann mich auch nicht selbst verwirklichen, es geschieht alles in Gemeinschaft und im Vertrauen darauf, dass ein liebevoll wahrhaftiger Lebensstil geheimnisvoll wirkt.

 

Zur Gemeinschaft gehört die Fähigkeit zurückzutreten, dass andere Raum und Entwicklungsmöglichkeiten finden. Zur Gemeinschaft gehört auch der Mut, die Grenze zu einem anderen zu überschreiten, die schwierige Gratwanderung zwischen Aufmerksamkeit und Aufdringlichkeit zu wagen. Die Chance des Besuchs und der persönlichen Begegnung sind besonders für Stadtgemeinden ein zentrales Thema.

 

Dem folgt die Bereitschaft, als Nächste sichtbar dazu sein. Das Mysterium der Präsenz ist eine großartige Erfahrung. Das Mysterium der Präsenz, daß da jemand in meiner Einsamkeit in der Nähe und ansprechbar ist, das hilft schlicht und wirkungsvoll leben.

 

Die ersten christlichen Gemeinden haben als Gemeinschaft vor Ort auffallend zusammengehalten. Sie haben als Nächste gelebt und waren bereit, sich wie der barmherzige Samariter von der Not bewegen zu lassen. Das ist auch heute noch ein mögliches Merkmal einer christlichen Gemeinde. Sie ist der Ort, wo Menschen Gehör und Begleitung finden. Sie zeichnet die Freiheit zum Opfer aus, dass ich um des anderen willen etwas geben kann.

 

NÄHE UND NÄCHSTE

Ansprechbarkeit und Erreichbarkeit jenseits von Sprechstunden ist wesentlich. Not kommt immer zur Unzeit und im schlechtesten Augenblick. Die Kirche ist ihrem Wesen nach eine Organisation, die unorganisiert helfen kann.

 

Öffnungszeiten und Schalterstunden sind für die Kirche nur ein Notbehelf. „Im Pfarrhaus brennt noch Licht“, war ein Werbeplakat in den siebziger Jahren. Das Signal ist wichtig, Christen sind auch zur Unzeit ansprechbar und zu erreichen.

 

Der Vorgang hat zwei Seiten: Neben der rechtlich organisierten Sozialarbeit, die das Gerüst einer sozialen Ordnung abbildet, braucht es dringend Menschen, die sich jenseits von Arbeitszeit  und Verfahrensvorschriften anderen zuwenden und das verlässlich und vorfindlich tun.

 

Flüchtlingsarbeit war ohne Ehrenamtliche nicht möglich. Die Gemeinden haben in unserem Sozialsystem eine Aufgabe. Sie stehen für niederschwellige und spontane Zugänge. Sie zeigen den Reichtum der Freiwilligkeit. Ein Gemeindebüro ist die Pforte in einen Sozialraum.

 

Umgekehrt braucht es die institutionelle Diakonie: Die engagierten Serviceclubs, soziale Aktionen von Zeitung und Rundfunk leben in ihrem Engagement von einer institutionellen Sozialarbeit. Ohne Kirche und Wohlfahrt hätten viele sozialen Initiativen kein Gegenüber und keine Grundlage für die eigenen Aktivitäten.

 

In Ergänzung dazu ist der Sozialraum für die kirchliche Gemeindearbeit eine neu zu bewertende Aufgabenstellung, die bewusster und verstärkt in die Pfarrstellenausschreibungen und in den diakonischen Dienst einbezogen werden sollte. Warum sorgen die Gemeinden und ihre Pfarrer nicht für die Altersheime in der Parochie?

 

Eine halbe Pfarrstelle und eine halbe Anstellung an einer Schule in Gemeindenähe wäre auch denkbar. Stellenteile für örtliche soziale Aktivitäten sollten mit der Gemeindearbeit verknüpft werden. Viele Sonderpfarrämter könnten mit einem Gemeindedeputat verbunden werden. Da wäre die Gemeinde der Rückraum für die Ehrenamtlichen in der besonders organisierten Diakonie und Sozialarbeit. Die Ehrenamtlichen kämen aus der Gemeindearbeit und sind in der Nachbarschaft bekannt. Und das Gemeindehaus öffnet seine Räume für die Leidenden.

 

Solche Verknüpfungen müssten bei der Bemessung von Gemeindestellen eine Rolle spielen. Die der Zahl der Mitglieder nach schwindenden Gemeinden würden durch solche strukturellen Veränderungen in der Öffentlichkeit fassbarer und als Kirche in der Nachbarschaft erlebbar.

 

Von den Gemeinden zur Kirche bildete ursprünglich sich die Organisation der Christenheit. Diese Perspektive sollten wir wiedergewinnen. Das versteht sich nicht mehr von selbst. Die oben erwähnte EKD-Schrift denkt von oben nach unten. Schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah sich Bischof Martin Haug zu dem Satz gezwungen: „Macht mir die Gemeinde stark“. Heute ist das vergessen. Ein Zentralismus regiert von oben durch.

 

In den Zukunftsthesen der EKD werden die Gemeinden als Relikt betrachtet. Die Entwicklung der Kirche soll sich in neuen mobilen Formen vollziehen. Bündnispartner sollen dem kirchlichen Anliegen zum Ziel helfen, das die Kirche aus eigener Kraft nicht stemmen kann.

 

Organisationsentwicklung steht hier Pate, die in diesem Papier vielfach beschworene Theologie hängt förmlich in der Luft und wird nirgends in ihrem Gehalt entfaltet, wie das Bekenntnis übrigens auch ohne innere Konsequenzen erscheint. Was die „Z Kommission“ entwickelt ist so allgemein, dass etwas spezifisch Christliches nicht mehr zu erkennen ist. Es wird zwar beschworen, aber nirgends ausgeführt.

 

Das christliche Leben beginnt in der Ortsgemeinde. Von dort aus bildet sich die Erneuerung. Es geht um eine Deckung zwischen Glauben und Leben in der Nachbarschaft in der Hoffnung, dass die von anderen wohltuend erlebt wird.

 

Die römische Gemeinschaft San Egidio ist ein Modell, wie eine Gemeinde in der Kirche die Nachfolge Jesu Christi übt. Wie eine Ortsgemeinde mit einer ökumenischen Ausstrahlung lebt, wird in Trastevere sichtbar.

 

BEISPIEL SANT’EGIDIO

Sant’Egidio ist eine 1968 in der Aufbruchsstimmung des zweiten vatikanischen Konzils entstandene christliche Gemeinschaft. Andrea Riccardi hat sie als Schüler in Rom begründet (www.santegidio.org). Im Lauf der Zeit ist ein Netzwerk von Gemeinschaften in über 70 Ländern der Welt entstanden. Sie achten als Gemeinde und persönlich auf die Menschen am Rande. Zu San Egidio gehören Menschen jeden Alters und aller Schichten, die im Hören auf das Evangelium und im ehrenamtlichen und unentgeltlichen Einsatz für die Armen und für den Frieden geschwisterlich vereint sind.

 

Gebet, Arme und Frieden sind die Grundpfeiler. In einer eindringlichen Meditation biblischer Texte öffnet sich das Beten für Gott und seine leidende Schöpfung. Das Gebet ist das erste Werk der Gemeinschaft, es begleitet das Leben und gibt ihm die Richtung. Texte der Bibel werden als Anrede an die Gemeinde gelesen, die sich in einem weltweiten Horizont sieht und die Leiden der Welt bedenkt. In Rom und überall auf der Welt ist der Gottesdienst der Gemeinde gleichzeitig ein Ort der Begegnung und Gastfreundschaft für jeden, der das Wort Gottes hören und beten möchte.

 

Die Armen sind Geschwister und Freunde der Gemeinschaft. Sie erhalten Brot und Kleider. San Egidio wendet sich freundschaftlich allen Bedürftigen – alten Menschen, Obdachlosen, Migranten, Menschen mit Behinderung, Gefangenen, Straßenkindern und Kindern der Peripherie zu. Der Gottesdienst ist mit gelebter Diakonie verbunden. Neben den leidenden Nachbarn stand im Januar 2021 die Fürsorge für die vom Schnee betroffenen Obdachlosen in Madrid genauso auf der Agenda wie die Dankbarkeit für die Abschaffung der Todesstrafe in Kasachstan.

 

Die Erfahrung, dass der Krieg Vater aller Armut ist, hat die Gemeinschaft zum Einsatz für den Frieden geführt. Das bedeutet, Frieden zu stiften, wo er bedroht ist, und den Dialog zu fördern, wo er nicht mehr möglich zu sein scheint. Die Friedensarbeit wird als Verantwortung aller Christen gelebt und ist Teil eines ganzheitlichen Einsatzes für Versöhnung und den Aufbau von Geschwisterlichkeit. Das kommt auch in ökumenischen Initiativen und im interreligiösen Dialog zum Ausdruck. Nicht nur hier ist Franz von Assisi ein Vorbild.

 

Wo Gottesdienst, Diakonie und Friedensarbeit nur ein wenig in der Gemeinde vor Ort durchsichtig und in der Nachbarschaft erfahrbar werden, ist Kirche mehr als eine Organisation. Sie lebt wie in ihren Anfängen als Leib Christi. Die Menschen nehmen Kirche in der sozialen Gestalt der christlichen Gemeinde wahr. Hoffentlich einladend, oft aber auch irritierend und herausfordernd wie vor 2000 Jahren.

 

Dr. Richard Mössinger
Pfr. i.R. in Heilbronn, Mitglied im Leitungskreis und im Redaktionsteam

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