Evangelium und Kirche
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Auf der Suche nach einem neuen Gott in der Welt

Politische Sicht auf Verschwörungstheorien

Von Pascal Kober MdB, EuK-Informationen 1/2021

 

Bill Gates, der wahlweise die Welt entvölkern, wahlweise aus Profitgier alle Menschen zwangsimpfen oder ihnen für die totale Überwachung mit dem Impfstoff einen Mikrochip implantieren wolle, oder die jüdische Weltverschwörung in Person des Börseninvestors George Soros, mögen in den meisten Kreisen noch direkten Widerspruch und Kopfschütteln erzeugen.

 

Die Übergänge von einem Verschwörungsglauben an eine globale Weltelite hingegen, die in der Manier von Puppenspielern das Geschick der Welt an Fäden knüpfen und zu bewegen Willens und in der Lage ist, zu kapitalismuskritischen oder globalisierungskritischen Ansätzen politischer linker wie rechter Lager sind allerdings schon fließender.

 

 

Folgt man den Ergebnissen einer aktuellen Studie der Konrad- Adenauer-Stiftung, die die Akzeptanz von Verschwörungstheorien untersucht hat, so muss man konstatieren, dass ausgerechnet während der Corona-Pandemie die Neigung, Verschwörungstheorien Glauben zu schenken, in der Bevölkerung zwar sichtbarer wurden, tatsächlich allerdings eher abnahm. Waren noch vor der Krise 30 Prozent der Befragten in Deutschland der Überzeugung, dass die Aussage „Es gibt geheime Mächte, die die Welt steuern.“ sicher richtig (11 Prozent) oder zumindest „wahrscheinlich richtig“ sei (19 Prozent), so sank dieser Wert während der Hochphase der Krise auf 8 bzw. 16, also auf 24 Prozent.

 

Die Ursache für die Akzeptanz von Verschwörungstheorien wird zumeist im unterbewussten Versuch des Einzelnen gesehen, persönliche Defizite in der Wahrnehmung oder im Verständnis der Wirklichkeit oder in der eigenen Persönlichkeit auszugleichen.

 

Ereignisse, Entwicklungen oder Zusammenhänge, die dem Einzelnen aufgrund ihrer Komplexität und den für ihr Verständnis notwendigen fehlenden oder nicht ohne weiteres zugänglichen Informationen nicht hinreichend verständlich sind, werden durch eigene Erklärungsmuster subjektiv verständlich und erklärbar (gemacht). Verschwörungstheorien haben somit auch eine emotionale Entlastungsfunktion. Sie entlasten von der eigenen Unsicherheiten und von eigenen Ängsten, weil sie Wissenslücken vermeintlich schließen und empfundene Sorgen und Ängste abzumildern in der Lage sein können („Das Corona-Virus ist nicht so schlimm, es wird uns nur Angst gemacht“).

 

Zudem können Verschwörungstheorien das eigene Selbstwertgefühl stärken, weil man sich anders als andere in der Lage sieht, vermeintlich Unerklärliches erklärbar zu machen. Die in bestimmten Situationen subjektiv empfundene Ohnmacht gegenüber bestimmten Entwicklungen und Ereignissen korrespondiert häufig damit, anderen, so beispielsweise Politikern, oder „Eliten“, wie Bill Gates oder George Soros, besondere Machtmittel und Einflussmöglichkeiten zuzuschreiben und diese zu überschätzen.

 

Verschwörungsglauben ist nicht immer im engeren Sinn politisch. Viele Bereiche, in denen Unkalkulierbares kalkulierbar und Unerklärliches erklärbar gemacht wird oder wenigstens in seiner Komplexität minimiert wird, haben nur im weiteren Sinne eine politische Dimension.

 

Auch religiöse (fundamentalistische Überzeugungen geprägt durch klare Tun-Ergehens-Zusammenhänge und eindeutige ethische Regelgebäude, persönliche (asketische) Lebensstile, die durch „Verzicht“ geprägt sind, häufig Einhergehend mit der Ablehnung des wissenschaftlich-rationalen Weltbildes, wirken in gleicher Weise komplexitätsreduzierend.

 

Häufig allerdings fällt die Neigung zum Verschwörungsglauben unheilvoll zusammen mit einer generellen Staats-, Demokratie- und Institutionenskepsis, die sich ihrerseits wiederum häufig aus demselben Unterlegenheitsgefühl bzw. aus denselben Erkenntnislücken speisen; aber vielfach auch aus Intoleranz oder dem Unwillen heraus, von der eigenen Meinung und den eigenen Interessen Abstriche machen zu müssen. Verschwörungstheorien zerstören Autoritäten, seien es wissenschaftliche, gesellschaftliche oder politische.

 

Was bleibt ist das eigene Ich, eine überschaubare Gruppe oder eine leicht zu überblickende „Wirklichkeit“ als einzige Autorität im Diskurs. Auch die Verengung der von Politik wahrzunehmenden und zu gestaltenden Aufgaben auf das „eine Thema“ als einzige und wichtigste Aufgabe, dem alles andere unterzuordnen ist, kann von der Komplexität und der Notwendigkeit, sich mit unterschiedlichen Interessen und Sichtweisen auseinandersetzen zu müssen, entlasten.

 

Wer aber könnte von sich sagen, über alles Bescheid zu wissen, jedes Phänomen in Gänze erfassen, beschreiben und erklären zu können? Der entscheidende Unterschied liegt darin, wie sehr solche Wissenslücken, unauflösbare Uneindeutigkeiten den einzelnen verunsichern. Nicht jede und jeden werfen „Lücken in der Erklärung“ in gleicher Weise aus der Bahn. Der von Psychologen verwendete Begriff für die Eigenschaft, sich durch Unsicherheiten und Ungewissheiten nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, Mehrdeutigkeiten und (scheinbare) Widersprüche aushalten und konstruktiv verarbeiten zu können, lautet Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit. Vielmehr bezeichnet Ambiguitätstoleranz die innere Verfassung, Erkenntnislücken, Mehrdeutigkeiten und Gegensätze auszuhalten, oder gar produktiv ins Verhältnis setzen zu können und mit unauflösbaren Spannungen und Vieldeutigkeiten umgehen zu können. Demokratie setzt Ambiguitätstoleranz voraus, da sie notwendigerweise damit einhergeht, eigene Sichtweisen, Interessen und Deutungen nicht absolut zu setzen. Nichtwählen ist häufig Ausdruck von fehlender Ambiguitätstoleranz: „Die da oben machen doch sowieso, was sie wollen“ als Reaktion auf die Enttäuschung eigener absolut gesetzter Erwartungen.

 

In Wirklichkeit ist das Ergebnis von Politik in der Demokratie in einer komplexen (Welt-) Gesellschaft immer ein Interessensausgleich und damit immer ein Kompromiss. Scheinbare „Kompromisslosigkeit“ und Eindeutigkeit in den (Forderungen) politischer Entscheidungen sind hingegen konstitutive Merkmale populistischer Politikansätze.

 

Schwarz-weiß-Schemata (Merkel/Europa/der Euro muss weg), einfache Erklärungen (die Südländer in Europa/die Flüchtlinge/der Islam/die „Privatisierung“/der „Kapitalismus“/die „Wirtschaft“). Während bildungsfernere Gruppen leichter als andere populistischen Politikansätzen zuneigen, stehen Bildungsbürger in Bürgerinitiativen häufig in der Gefahr, sich in durchaus rationalplausiblen Argumentationsketten so zu verknoten, dass sie die für die Demokratie notwendige Kompromissbereitschaft – sich also mit anderen „Interessen“ versöhnen zu können – verlieren.

 

Hier ist die Kirche gefragt. Hier haben wir viel von unserem Eigenen in den Diskurs einzubringen. Denn für den christlichen Glauben ist der Umgang mit Uneindeutigkeiten konstitutiv. Schon der biblische Kanon mit seinen 66 Schriften, die Vielzahl an in diese eingeflossenen Quellen sind Ausdruck der Vieldeutigkeit, in der sich Gott menschlicher Erkenntnis offenbart hat.

 

Die theologische Beschreibung des Menschen als „Sünder und Gerechter zugleich“ ermöglicht es, positive und negative Erscheinungen in derselben Person erkennen und zusammendenken zu können, ohne sie nach der einen oder anderen Seite hin – schwarz oder weiß – auflösen zu müssen. Der Kern der Predigt Jesu vom „Kommen des Reiches Gottes“ ermöglicht es, Gutes wie Beklagenswertes, Gelungenes wie noch Ausstehendes in Geschichte und Gegenwart annehmen zu können, ohne sich auf Pessimismus, Zynismus oder Gleichgültigkeit zurückziehen zu müssen.

 

Der christliche Glaube als solches lässt sich als die Einheit des Spannungsverhältnisses von Bestimmtheit einerseits und Offenheit andererseits beschreiben. Für die Christentums- bzw. Theologiegeschichte konstitutiv ist das immerwährende Ringen um Bestimmtheit und Eindeutigkeit der Botschaft, heilsam korrigiert immer wieder durch das Liebesgebot und durch den Glauben an das menschlicher Verfügung entzogene Offenbarungshandeln Gottes, die wiederum beide als konstitutive Pfeiler für den Erhalt des dialogischen Prinzips im innerchristlichen Diskurs verstanden werden können.

 

Ohne Zweifel wird unsere Welt immer komplexer. Genauer: Wissen und Geschwindigkeit der Wissensvermittlung nehmen zu und können zu Verunsicherungen führen. Der Zwang mit diesen Unsicherheiten umzugehen, macht Verschwörungstheorien zur Erklärung bestimmter Phänomene attraktiv und leistet von „rechts“ religiös-fundamentalistischen, nationalistischen, populistischen und autokratischen Strömungen Vorschub.

 

Aber auch die zunehmende Konjunktur eines gesinnungsethisch bis hin zum moralischen Rigorismus orientierten „juste milieus“ auf der ökologisch-linksliberalen Seite hat darin ihren Ursprung. Aktuell, so wird vielfach konstatiert, entwickeln wir uns eher hin zu einem immer (ambiguitäts)intoleranteren Zeitgeist.

 

Der empfundene Zwang, im allgemeinen Informationsrauschen nicht untergehen zu wollen, tut sein Übriges. Wo Eindeutigkeit als hörbarer empfunden wird als Vieldeutigkeit wächst die Versuchung, Uneindeutigkeiten sachfremd aufzulösen und sei es zum Beispiel auch nur durch symbolhaftes (ethisches) Handeln, das die Komplexität politischen Handelns in einer pluralen freiheitlichen Gesellschaft ausblendet – so beispielsweise der geäußerte Vorwurf gegen die Finanzierung von „Flüchtlingsschiffen“.

 

Vielleicht ist das kommende Jahrzehnt das Jahrzehnt des Wiedererstarkens von Kirche. Dann vielleicht, wenn Theologie und Kirche die „Uneindeutigkeit“ zu ihrer „Eindeutigkeit“ machen. Wenn sie (wieder) zum Ort werden, an dem Uneindeutigkeiten, Mehrdeutigkeiten, Komplexitäten ausgehalten und sinnvoll und wertschätzend bearbeitet werden, an dem widerstreitende Interessen und Meinungen – statt scheinbar aufgelöst – in bleibender Unterschiedlichkeit miteinander versöhnt werden.

 

Dabei geht es nicht darum, Appelle auszusenden, das Anderssein des Anderen als bereichernd empfinden zu sollen und Ungewissheiten zu banalisieren. Vielmehr geht es darum, die Menschen einerseits mit ihrer je eigenen Fehlbarkeit, Begrenztheit und Kontingenz und andererseits mit der Komplexität von Gesellschaft, Schöpfung und Erkenntnis (-prozessen) und der prinzipiell unvorhersehbaren und unvorherbestimmbaren Zukunft zu versöhnen.

Pascal Kober

Abgeordneter im Deutschen Bundestag (MdB) und Mitglied von Evangelium und Kirche

 

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